Im Juli 2015 mache ich mich daran, ein lang gehegtes Ziel tatsächlich zu erreichen: die Besteigung des Matterhorns.
Kein anderer Berg macht mir so viel Angst wie dieser. Und kein anderer ist so schön.
So nennen es viele – wegen seiner einzigartigen Form, seiner exponierten Lage und seiner Geschichte voller Mythen und Dramen. Kein anderer Gipfel der Alpen wirkt so ikonisch und zugleich so erschreckend.
4.478 m hoch – und einer der gefährlichsten 4.000er der Alpen. Mehr als 500 Bergsteiger sind seit 1865 hier verunglückt. Die Mischung aus Steilheit, Exponiertheit und Wetter macht das Matterhorn weltweit einzigartig.
Die klassische Route führt über den Hörnligrat – eine schmale, ausgesetzte Linie direkt entlang der markanten Nordostkante. Sie gilt als technisch anspruchsvoll, aber am sichersten begehbar und ist bis heute die meistgenutzte Aufstiegsroute auf den Gipfel.
Der Zug hält, Türen öffnen sich, ich steige aus – und suche mit den Augen diesen einen Berg. „Wo ist es denn, das Matterhorn?“ denke ich. Ich schaue über meine rechte Schulter … und sehe es.
Dieses Dreieck aus Fels und Eis, das man von Schokoladepackungen und Postkarten kennt – doch in echt ist es etwas anderes. Eine Erscheinung. Ein Monument. Eine furchtbare Bestie.
Der Anblick raubt mir den Atem. Ich stehe da, wie festgenagelt, und spüre: Das ist kein normaler Berg. Seine Kante schneidet in den Himmel wie ein Messer. Er wirkt unnahbar, unbezwingbar – und das war er lange Zeit auch.
Das Matterhorn galt über Jahrhunderte als „unbesteigbar“. Es war der letzte der großen 4.000er der Alpen, den Menschen bezwingen konnten – erst 1865, und selbst diese Erstbesteigung endete tragisch: Vier der sieben Alpinisten stürzten beim Abstieg in den Tod. Bis heute -genau 150 Jahre später- ist das Matterhorn einer der gefährlichsten Berge Europas – über 500 Bergsteiger kamen hier ums Leben. Wenn man ihn live sieht, versteht man sofort, warum. Umso verwunderlicher, dass die Einheimischen ihren Berg verniedlichend als das "Hörnli" bezeichnen. Muss wohl schweizerischer Humor sein :-)


Ein paar Tage verbringe ich mit „Einklettern“ in der Umgebung. Ich besteige meinen ersten Viertausender, das Breithorn – als Vorbereitung auf das große Ziel. Dann geht es zur Hörnlihütte, dem Ausgangspunkt der klassischen Route. Am Abend treffe ich meinen Bergführer Helmi, wir besprechen den Aufstieg. Ich schlafe kaum.
22. Juli 2015. Noch vor Morgengrauen öffnet sich die Hüttentür. Eine Schlange aus Stirnlampen setzt sich in Bewegung. Mein Puls liegt bei 170, viel zu hoch für das, was vor mir liegt. Helmi dagegen ist völlig entspannt: für ihn ist es ungefähr die 500. Besteigung.
Der Aufstieg ist kein Sprint, sondern ein stetiges Ringen. Mit jedem Meter wird der Fels steiler, die Luft dünner, der Berg gnadenloser. An der Solvayhütte (ca. 4000m Höhe) brauche ich eine Pause. Ich weiß: Wenn mein Bergführer entscheidet, dass es zu viel ist, drehen wir um. Aber in mir ist klar – solange Helmi mich mitnimmt, steige ich weiter.
Dann kommen die Fixseile. Eine der Schlüsselstellen am Berg. Senkrechte Wand, tausend Meter Luft unter mir. Das Prinzip der bewusst gesteuerten Zielgedanken, dass ich vom Großglockner schon kenne: es greift auch hier. Trotz dieser für mich angsteinflößenden Stelle fühle ich mich "wie im Flow", ziehe mich die unterschiedlichen Seile, die senkrecht am Fels verlaufen hoch.
Hände greifen - Arme ziehen - Beine drücken.
Das Prinzip der bewusst gesteuerten Zielgedanken, dass ich vom Großglockner schon kenne: es greift auch hier.
Doch nach den Fixseilen wird die Luft so dünn, dass ich kaum drei Schritte am Stück schaffe. Zwei Schritte, Pause. Zwei Schritte, Pause. Über 4.000 Meter kämpft jeder Atemzug gegen die Erschöpfung.


Und dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – steht sie da: die kleine Marienstatue kurz unter dem Gipfel, die Madonna des Matterhorns. Ein stilles Zeichen menschlicher Demut vor der Größe dieses Berges. Ich spüre, dass ich es geschafft habe. Die letzten Schritte noch und ich bin oben. Der Grat ist schmal, links und rechts Abgrund, aber das spielt keine Rolle mehr. Ich schreie alles heraus. „JAAAA!“
Mein Bergführer nimmt mich in den Arm, macht ein Foto. Später beim Abstieg sagt er mir:
„Ich wollte an der Solvayhütte eigentlich abbrechen. Aber in deinen Augen war etwas, das mir sagte: Er schafft es.“
Das war einer der schönsten Sätze, die jemals zu mir gesagt wurden.
Das Matterhorn wirkte beim ersten Anblick wie eine furchteinflößende Bestie – steil, abweisend, fast übermenschlich. Ein Berg, der dir sofort zeigt, wie klein du bist. Und doch lernt man dort oben etwas Entscheidendes: Selbst der respekteinflößendste Gipfel wird bezwingbar, wenn man ihn in kleine, machbare Schritte zerlegt. Nicht der große Sprung bringt dich ans Ziel, sondern das geduldige „ein Schritt weiter, ein Stück höher“.
Das Matterhorn hat mir gezeigt, dass Nervenstärke nicht bedeutet, ohne Angst zu sein, sondern trotz Angst klar zu bleiben. Und dass Fokus kein Zufall ist, sondern ein trainierbarer Muskel – einer, der dich besonders dann trägt, wenn der Körper an der Grenze arbeitet und die Luft dünner wird. Manchmal entstehen genau dort, in der höchsten Anspannung, die klarsten Gedanken.
Als ich später zur Hörnlihütte zurückkehrte – erschöpft, erleichtert, voller Eindrücke – bekam ich dort meine Gipfelurkunde überreicht. Nicht auf dem Gipfel selbst, sondern unten, wieder sicher am Berg.
Ein schlichtes Dokument – aber für mich ein kraftvolles Symbol:
Selbst eine „Bestie von Berg“ wird bezwingbar, wenn man ruhig bleibt, präsent bleibt und weitersteigt. Schritt für Schritt.

©2022 Digistore24 GmbH, alle Rechte vorbehalten